Autismus


 

Medizinisch ist Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung eingeordnet. Der Oberbegriff lautet Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Autismus beinhaltet Veränderungen der neuralen und psychischen Entwicklung. Die Bezeichnung „Spektrum“ bezieht sich auf die Vielfalt an Merkmalen und Fähigkeiten, die Menschen im Autismus Spektrum (AS) haben können. Manche sind lediglich leicht beeinträchtigt, andere sind schwer und mehrfach behindert. Es handelt sich um eine Symptomorientierte Summationsdiagnostik.

Autisten nehmen ihre Umwelt auf besondere Weise wahr und verarbeiten aufgenommene Reize anders.

Daraus ergeben sich Besonderheiten:

  • der sozialen Interaktion
  • in der Sprache und nonverbalen Kommunikation
  • in der Motorik
  • innerhalb der Fähigkeiten und Interessen
  • innerhalb des Verhaltens

Jeder autistische Mensch hat seine eigene Persönlichkeit mit besonderen Stärken und individuellen Besonderheiten.

Typisch für Menschen mit Autismus sind sensorische Besonderheiten bei Wahrnehmungen, sowie die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, was im Alltag zu Irritationen und Missverständnissen führen kann.

Allgemeine Merkmale und Auswirkungen

Kinder im AS folgen keinen typischen Mustern bei der Entwicklung ihrer sozialen und kommunikativen Fähigkeiten. Meist sind es die Eltern, denen ein ungewöhnliches Verhalten ihres Kindes auffällt. Oft wird bestimmtes Verhalten beim Vergleich mit anderen gleichaltrigen Kindern offensichtlich. In manchen Fällen zeigen Babys bereits in ihrer frühen Entwicklung bestimmte typische Auffälligkeiten. So kann z.B. eine Fokussierung auf bestimmte Objekte, seltener Augenkontakt, fehlende Beteiligung beim typischen Hin-und-Her-Spiel und Brabbeln mit den Eltern früh erkennbar sein. Andere Kinder hingegen entwickeln sich zunächst bis zu ihrem zweiten oder sogar dritten Lebensjahr normal, beginnen dann aber das Interesse an Anderen zu verlieren und werden still, zurückgezogen oder (scheinbar) gleichgültig gegenüber sozialen Signalen (…)“

Es gibt Betroffene, die die Fähigkeit einer, wenn auch nicht üblichen, sehr guten Erfassung von Situationen und von Beurteilungen der Menschen in ihrem Umfeld haben, auch wenn ihr Blick abwesend scheint.

„Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass autistische Kinder subtile soziale Hinweise - z.B. ein Lächeln, ein Blinzeln oder eine Grimasse – missverstehen oder erst gar nicht bemerken. Gerade diese Hinweise wären hilfreich, um soziale Beziehungen und Interaktionen zu verstehen. Für solche Kinder bedeutet z.B. die Frage, „Kannst du mal eine Minute warten?“ immer dasselbe. Unabhängig davon, ob der Sprecher Witze macht, eine wirkliche Frage stellt oder es sich um eine nachdrückliche Bitte handelt. Ohne die Fähigkeit, den Ton der Stimme, Gesten, Gesichtsausdrücke und andere nonverbale Kommunikation einer Person zu interpretieren, können Kinder im AS nicht angemessen antworten. Ebenso kann es für den Interaktionspartner dadurch erschwert sein, die Körpersprache eines Kindes mit Autismus zu deuten. Ihre Gesichtsausdrücke, Bewegungen und Gesten sind oft eher vage oder passen nicht zu dem, was sie sagen. Der Ton ihrer Stimme reflektiert oft nicht ihre eigentlichen Gefühle. Viele ältere autistische Kinder sprechen mit einer ungewöhnlichen Stimme, die entweder wie ein Sing-Sang oder Roboter-ähnlich klingt.

Autistische Kinder können Probleme damit haben, den Standpunkt anderer Personen zu verstehen. Ab dem Schulalter z.B. wissen die meisten Kinder, dass Andere unterschiedliche Informationen, Gefühle oder Ziele haben, als die, die sie selbst haben. Kindern mit Autismus fehlt dieses Verständnis. So gelingt es ihnen nicht, das Verhalten anderer vorherzusagen oder zu verstehen (…)“

Und hier ein kurzer Trickfilm zum Thema
"Mobbing" 

Hier können Ängste, Wut, Aggressionen entstehen. Erwachsene Autisten berichten, dass sie sich, in sozialen Begegnungen, ständig einer nicht greifbaren Gefahr ausgesetzt fühlen. Dies hat einen permanenten Stresspegel zur Folge. Im Laufe des „Auswendiglernens“ individueller Verhaltensmuster einzelner Personen und Situationen, erlangen sie Sicherheit und können sich in das soziale Umfeld „einfügen“. Minimale Abweichungen vom Erlernten rufen neue Verunsicherungen hervor und stellen praktisch eine neue Situation dar.

„Betroffene Kinder tendieren dazu, übermäßig fokussierte Interessen zu haben. Sie können beispielsweise fasziniert sein von sich bewegenden Objekten oder Teilaspekten von Objekten, wie den Rädern eines fahrenden Autos. Sie können auch stundenlang damit verbringen, Spielzeuge in einer bestimmten Ordnung aufzureihen. Nicht selten reagieren diese sehr aufgebracht, wenn etwas in Unordnung gerät.

Sich wiederholende Verhaltensweisen können auch in Form von beharrlicher und intensiver Beschäftigung mit einem Thema auftreten. Zum Beispiel können Kinder davon besessen sein, alles über Staubsauger, Zugfahrpläne oder Leuchttürme zu lernen. Viele Menschen mit Autismus haben über das Kindesalter hinaus großes Interesse an Ordnungssystemen wie Zahlen, Nummern, Symbolen oder auf wissenschaftlichen Gebieten (…)“

Diese Themen sind klar, sachlich, eindeutig. Sie geben Sicherheit. Hier kommen Betroffene zur Ruhe. Es hilft ihnen, eine innere Ordnung herzustellen, in einer Welt, die oft als zu herausfordernd von Menschen mit Autismus empfunden wird. Nutzt man diese Spezialinteressen, können hervorragende Fähigkeiten für ein zukünftiges Arbeitsfeld genutzt und auf diese Weise eine Einbindung in die Gesellschaft erfolgen.

„Manche Betroffene beharren darauf, jeden Tag dasselbe zu tun, zu essen oder z.B. immer den gleichen Weg zur Schule zu nehmen. Schon eine leichte Veränderung in der alltäglichen Routine kann zu extremer Aufregung führen (z.B. personeller Wechsel beim Schülertransport)…“ - denn in solchen Momenten, beginnt eine völlig neue Situation die, zusätzlich zum Alltag, neu erfasst, sortiert und abgespeichert werden muss.

(enthält Zitate aus dem Elternratgeber Autismus-Spektrum-Störungen, Bundesverband autismus Deutschland e.V.)

Betroffene und deren Familien stehen viele Jahre und oft lebenslang unter hohem Bewältigungsdruck. Nicht selten werden Kinder zu Mobbingopfern und bei mangelndem Verständnis und fehlenden Integrationshilfen zu Schulverweigerern mit entsprechenden Folgen für die weitere Ausbildung.

„Nicht selten zeigt sich im späteren Leben eine Neigung zur Fehleinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit verbunden mit perfektionistischen Ansprüchen an sich selbst, was zu Überforderungen, Depressionen und Rückzug führen kann.“

Dies können Folgen des ständigen Vergleiches mit nichtautistischen Personen und dem Leistungscharakter der Gesellschaft sein. Eine Anerkennung des „Anders seins“, und ein weniger defizitärer Blick auf Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen, würde Betroffene stärken. Gleichzeitig können Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens in allen Bereichen, wie z.B. Normen und soziale Konventionen, aber auch wachsende Leistungsanforderungen hinterfragen.

„Autismus ist eine Entwicklungsstörung und nicht grundsätzlich mit einer Intelligenzminderung gleichzusetzen. Insofern gibt es also Autismus mit geistiger Behinderung und den Autismus ohne geistige Behinderung, ebenso wie es auch seltener das Zusammentreffen von Autismus und Hochbegabung gibt (…).

Die Besserung der autismustypischen Einschränkungen ist abhängig vom Entwicklungsniveau, also der Fähigkeit zur allgemeinen Lebensbewältigung des Einzelnen. Dabei ist die Prognose umso günstiger, je früher die Diagnostik erfolgt und die gezielte Förderung beginnt.

Betroffene Menschen, einschließlich deren Angehörige, benötigen langwierige, kontinuierliche Unterstützung, i.d.R. lebenslang. Der Unterstützungsbedarf variiert und ist bei Menschen mit niedrigem Entwicklungsniveau am höchsten. Dabei ist die Gestaltung der Übergänge einzelner Lebensabschnitte maßgebend für Erfolg oder Misserfolg bei der dauerhaften Lebensbewältigung.“ (aus: Autismus – eine (nicht) alltägliche Herausforderung, Dokumentation der Arbeitsgruppe Autismus, Kooperationsverbund Autismus, Brandenburg, S.16/17)

 

 

Die Unsicherheit im Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum ist nach wie vor groß.

Warum?

  • Die Vielfalt der Erscheinungsformen und individuellen Ausprägungen erschweren die diagnostische Abgrenzung zu anderen psychischen Erkrankungen erheblich.
  • Die Diagnose basiert auf einer genauen und langen Beobachtung der individuellen Symptome (Symptomorientierte Summationsdiagnostik). Dafür ist ein intensiver Austausch mit den Eltern und weiteren Kontaktpersonen notwendig.
  • Spezielle Ausprägungen des Autismus sowie spektakuläre Filme führten zu einer nicht unerheblichen Mystifizierung des Autismus.
  • Nach wie vor forschen Wissenschaftler in internationalen und interdisziplinären Teams nach möglichen Ursachen, die neben genetischen und neurobiologischen Aspekten auch im gesellschaftlichen Umfeld vermutet und kontrovers diskutiert werden.

Unser Anliegen

Autismus ist nicht heilbar, aber betroffene Kinder können erhebliche Fortschritte in ihrer Entwicklung machen, wenn sie passend gefördert werden. Welche Fördermaßnahmen sinnvoll sind, muss jeweils im Einzelfall nach einer fundierten Diagnostik / Differenzialdiagnostik entschieden werden.

Hier ist es wichtig, aufgrund der individuellen Ausprägungen und dem Recht auf Selbstbestimmung, den Betroffenen und die Familie als Experten auf Augenhöhe mit einzubeziehen.

Das erfordert umfassendes Wissen zum Thema Autismus auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens: angefangen im medizinischen Bereich, in der Früherziehung, in der Schule und Ausbildung, im Arbeitsleben sowie im Bereich Wohnen.

Seit Gründung des Landesverbandes 2009 bildet deshalb die Öffentlichkeitsarbeit einen entscheidenden Schwerpunkt unserer Tätigkeit. Der Vorstand setzt sich aus Mitgliedern betroffener Familien zusammen und organisierte bisher in ehrenamtlicher Tätigkeit zahlreiche Informationsveranstaltungen, Workshops und Tagungen. In diese Weiterbildungen für Erzieher, Pädagogen, Verwaltungen sowie medizinisches Fachpersonal und Ärzte bringen unsere Mitglieder die Erfahrungen von Menschen mit Autismus ganz unmittelbar mit ein.